Schuldgefühle können zermatern und schwer zu ertragen sein, richtig schwer. Meist geht es bei den Selbstvorwürfen nach dem Tod um die Todesumstände oder die Zeit kurz vorher. Entweder tauchen die Selbstvorwürfe neben den ganzen anderen Gefühlen immer wieder punktuell auf oder sie nehmen so einen großen Raum ein, dass die Schuldgedanken in der Nacht den Schlaf rauben und tagsüber Freude verbieten. Besonders auffällig fand ich in der Begegnung mit Schuldgefühlen, dass sie extrem immun gegen rationale Argumente von Außenstehenden sind. Selbstvorwürfe nach Tod– was kann im Umgang helfen? Dazu kann ich den, wie ich finde, genialen Buchtitel von Chris Paul zum Thema Schuld in Trauerprozessen nennen: Schuld | Macht | Sinn.
In der Begegnung mit Selbstvorwürfen bei meinen Klient*innen machen wir uns auf die Suche nach dem Sinn dahinter.
Schuld ist subjektiv geprägt
Als Außenstehender entscheidet man häufig sehr schnell, ob das Schuldgefühl des Gegenübers berechtigt ist oder nicht. Die Zuschreibung von Schuld ist geprägt von Normen und Regeln, die wir gelernt haben. Vorstellungen wie unser Zusammenleben aussehen soll. Manchmal sind diese Vorstellungen von Moral ganz starr und uneränderbar, mal sind sie flexibel.
Dasselbe gilt, wenn wir uns selbst schuldig fühlen. Je nach Ausprägung und Härte des „eigenen inneren Richters“ können wir uns in einer schwierigen Situation schuldig fühlen oder mit uns milde sein und sagen, dass viel mehr eine Rolle gespielt hat als unser eigenes Handeln.
Sind Eltern, die ihr kleines Kind kurz außer Acht lässt und dann ein tödlicher Unfall geschieht, schuldig oder nicht?
Je weiter weg man steht, umso eher neigt man möglicherweise dazu eine Mitschuld zu zu sprechen. Je besser man die Eltern kennt, sie liebt, das ganze Leid spürt, umso eher spricht man sie von Schuld frei.
Oder: wenn man selbst Mama/Papa ist, bekommt man Angst und sagt: sie hätten xy machen müssen, dann wäre das nicht passiert! In Klammern dahinter steht dann: wenn ich xy mache, kann meinem Kind und mir so was schreckliches nicht passieren. Solche Unfälle sind vermeidbar!
Oder auch: Oh Gott, die armen Eltern. Das könnte ja jedem passieren. Da können sie gar nichts dafür! In Klammern steht dann vielleicht so was wie: wie schuldig ich mich fühlen würde in der Situation- das könnte ich nicht aushalten.
Auch Gerichte kommen meist nicht zu schnellen Rechtssprüchen, sondern es erfolgt eine lange Abwägung.
Was ich damit sagen will: in seltesten Fällen ist es eindeutig und in unserem Alltag ist das Empfinden von Schuldgefühlen und die Zuschreibung von Schuld sehr subjektiv.
Es spielen viele Faktoren in der eigenen Geschichte und in der Persönlichkeit eine Rolle. So zum Beispiel, ob ich selbst oft und in welcher Form bestraft wurde als Kind. Wie ich Normen und Regeln internalisiert habe und wie starr die sind. Wie sehr ich auf das Gefühl von Kontrolle im Leben angewiesen bin. Und noch so vieles mehr.
Selbstvorwürfe in der psychologischen Beratung- was aus meiner Sicht wenig hilft
Ich erlebe in der Begleitung von Klient*innen die Unterscheidung zwischen realer Schuld und einem Gefühl von Schuld meist nicht sinnvoll. Meine Weiterbildung zur Psychotherapeutin habe ich in kognitiver Verhaltenstherapie gemacht. Hier geht es oft um die Veränderung von negativen Gedanken, also in dem Fall von Schuldgedanken. Man macht also z.B. einen „Schuldkuchen“ machen und schaut, ob man den eigenen Anteil am Geschehenen überschätzt usw.
Das Problem an diesen kognitiven Techniken ist, dass die Betroffenen dies häufig schon bis ins Unendliche mit ihren Freunden und Verwandten durchgegangen sind. Das hat im Idealfall neue Perspektiven gebracht und zu Erleichterung geführt. So richtig hat es aber für das GEFÜHL der Schuld nichts gebracht (sonst würden sie sich gar nicht bei mir melden).
Ich bin deshalb in diesen Fällen von den kognitiven Techniken abgekommen. Was die Beurteilung der Selbstvorwürfe angeht, halte ich mich total raus. Ich bin ja auch weder ein Richter, noch kann ich beurteilen, ob eine Situation tatsächlich anders gelaufen wäre oder wie sie zu interpretieren ist. Was weiß ich denn schon??? Und vor allem was hilft es, wenn ich die millionste Person bin, die sagt: „Du bist doch nicht Schuld. Das würde der Verstorbene auch nicht wollen, dass du das denkst!“
Genau: nichts.
Aber: wir können gemeinsam rausfinden wofür diese Selbstvorwürfe nach dem Tod stehen. Welche Fragen in Bezug auf das Leben sie beantworten. Woher das Thema Schuld kommt. Welche Auswirkungen sie auf das aktuelle Leben haben. Welche Funktion sie möglicherweise haben. Wir versuchen gemeinsam einen größeren Sinnzusammenhang herzustellen. Manchmal entscheiden wir uns auch zu einer imaginativen Begegnung mit dem Verstorbenen (nichts Esoterisches, sondern ein wissenschaftlich untersuchtes Verfahren, IRRT genannt).
Mein Ziel ist es nicht, dem Betroffenen die Schuld auszureden (selbstverständlich auch nicht zu bestätigen), sondern zu erreichen, dass sie besser verstanden wird (auch emotional gesehen), denn das erleichtert den Umgang damit. In diesem Blogartikel von mir kannst du mehr zu den möglichen Funktionen von Schuldgefühlen in der Trauer erfahren. Oft ist das Schuldgefühl auch nicht ganz weg, aber zumindest ist der Sinn klarer und das nimmt häufig deutlich an Schwere und Schmerz raus.
Ein Fallbeispiel aus eigener Praxis (Selbstvorwürfe Tod Mutter)
Natürlich ist folgendes Beispiel derart verändert, dass es keine Rückschlüsse auf meine Klient*innen zulässt.
Sara, 32 Jahre, kam zu mir in die Beratung, weil sie sich große Selbstvorwürfe nach dem Tod ihrer Mutter machte, die zu diesem Zeitpunkt vor 9 Monaten verstorben war. Die Beziehung zur Mutter sei immer extrem eng gewesen. Keiner habe sie so gut verstehen können wie ihre Mutter. Sie sei nach zweijähriger Erkrankung an Darmkrebs verstorben.
Der Krankheitsverlauf sei sehr hart gewesen. Es hätten mehrere OPs stattgefunden und anschließende Chemotherapien. Sara habe sich unbezahlten Urlaub genommen und sei täglich für die Mutter da gewesen. Sie habe sich intensiv um sie gekümmert und viele pflegerische Aufgaben übernommen. Zwischenzeitlich habe es auch mal „gut“ ausgesehen und dann habe sich der Zustand aber wieder massiv verschlechtert. Sie sei ständig zwischen Krankenhaus und zuhause hin und hergewechselt. Habe ihre Mutter aber so lange und so viel es ging, zuhause mit nur wenig anderweitiger Unterstützung gepflegt. Als der Tod unausweichlich schien, habe sie ihrer Mutter fest versprochen, dass sie zuhause sterben dürfte. Sie organisierte die Palliativbetreuung zuhause.
Eines Nachts verschlechterte sich der Zustand der Mutter zusehends. Sara habe Angst bekommen und den Arzt gerufen. Dieser vermutete eine akute Komplikation und ließ sie ins Krankenhaus bringen. Sara widersprach in diesem Moment nicht. Sie schilderte, dass sie bei der Mutter ein deutliches Kopfschütteln wahrnahm als die Notärzte sie auf die Trage manövrierten. Dabei habe ihr die Mutter nochmal tief in die Augen geblickt.
Danach sei sie nicht mehr ansprechbar gewesen. Kurz nach der Ankunft im Krankenhaus sei die Mutter verstorben. Sara sei die ganze Zeit bei ihr gewesen.
Sara berichtete mir in der ersten Sitzung, dass sie sich extreme Selbstvorwürfe mache, dass ihre Mutter nicht zuhause sterben konnte wie sie es ihr versprochen habe. Außerdem habe sie ihrer Mutter viel zu viel Leid zugefügt, indem sie sie immer wieder ermutigt habe, weitere vorgeschlagene Therapien in Anspruch zu nehmen, obwohl die Mutter oft nicht mehr wollte. Sie habe eine Woche vor ihrem Tod noch versucht, leichte Sportübungen mit ihr zu machen, damit sie zu Kräften komme. Im Rückblick sei das doch einer Qual der Mutter gleich gekommen. Eigentlich habe sie die Hoffnung bis zum Schluss nicht aufgegeben. Sie könne nun kaum mehr schlafen, gehe die Situation vor der Krankenhauseinlieferung ständig durch, frage sich was das Kopfschütteln bedeutet habe und wisse nicht wie sie wieder in ihr Leben finden solle.
An der Stelle darfst du mal kurz inne halten und deine automatische Bewertung der Schilderung wahrnehmen. Die gibt es nämlich bestimmt.
Was in der psychologischen Beratung half
In der gemeinsamen Beratung sind wir den Selbstvorwürfen nachgegangen. Wir haben herausgefunden, dass Sara durch die Vorwürfe sich selbst in der engen Beziehung zur Mutter auch über den Tod hinaus hielt. Sie sich beim Grübeln darüber der Mutter nahe fühlte. Den Tod habe sie in der Erkrankung immer wieder verdrängt und konnte ihn auch zu Beginn der Beratung nicht wahr haben. Sie hatte Angst davor, dass es bedeuten würde, ihre Mutter aufzugeben. Das wäre ihr wie ein Verrat an der Beziehung vorgekommen. Schuldvorwürfe halfen das Unbegreifliche begreiflich zu machen. Dies konnten wir Stück für Stück aufdröseln. Wir entwickelten Rituale und andere Möglichkeiten, sich ihrer Mama nahe zu fühlen.
Sara konnte Zusammenhänge herstellen und ihre Gefühle besser verstehen. Wir haben Glaubenssätze entdeckt wie „für Liebe muss ich kämpfen“ und „wenn ich Liebe bekomme, stehe ich in der Schuld des anderen“. Den Kampf gegen die Krankheit verloren zu haben, obwohl sie alles getan hat, fühlte sich wie ein persönliches Versagen an. Der Gipfel war, der Mutter nicht auch noch den letzten Wunsch erfüllt zu haben.
Sara schrieb einen Brief an ihre Mutter und schrieb auch die fiktive Antwort ihrer Mutter darauf. Aufgrund der „Vorarbeit“, die wir in der Beratung geleistet hatten und der engen Beziehung der Beiden wusste Sara genau, was ihre Mutter zu den Selbstvorwürfen sagen würde. Ihre Mutter erklärte im Antwortbrief ihr Kopfschütteln vor der Krankenhauseinlieferung, sagte Sara, wie wichtig ihr Beistand für sie war und dass sie nichts falsch gemacht habe. Obwohl Sara dies kognitiv schon oft durchgegangen war, konnte sie es beim Abschluss der Beratung es auch spüren und tatsächlich annehmen. Wir übten Selbstmitgefühl und Sarah spürte auch hilfreichen Ärger, der ihr Energie gab. Sie ließ die Trauer zu und auch wenn selbstverständlich der Verlust immer traurig blieb, fühlte sich Sara wieder freier und konnte sich schrittweise ihrem veränderten Leben öffnen.
Wenn auch du das Gefühl hast, in der Trauer fest zu stecken, hilft dir vielleicht auch dieser Artikel weiter. Denk dran: du musst da nicht alleine durch! Wenn du an meiner Unterstützung interessiert bist, melde dich gerne bei mir! Hier kannst du Kontakt zu mir aufnehmen.
Pingback: Schuldgefühl und Trauer nach Verlust - was kann helfen