Weinen in der psychologischen Beratung oder Psychotherapie
Soll ich mich für meine Tränen entschuldigen?
Auf keinen Fall musst du dich entschuldigen!!!
Ich erlebe immer wieder, dass Klient*innen um Verzeihung bitten, wenn sie Tränen zeigen. Oft gepaart mit Sätzen wie: „schlimm ist das mit mir“ oder „ich bin nicht immer so eine Heulsuse“.
Ich bedauere dann total, dass diese Person das Gefühl hat, dass es nicht in Ordnung oder sogar peinlich ist zu weinen. Wenn wir nicht mal in der psychologischen Beratung bzw. Psychotherapie weinen dürfen, wo dann?
Woher kommt bei so vielen Menschen der Reflex, sich für Tränen abzuwerten oder zu entschuldigen? Warum erleben manche von uns Weinen als peinlich?
Tränen haben einen Sinn:
Tränen sind ein Ausdruck des Bedürfnis nach Trost und Halt. Das hat die Natur aus gutem Grund so angelegt.
Sie sind eine physiologische Reaktion auf das Gefühl Trauer und auf Schmerz.
Da man in der Beratung und Psychotherapie Trost sowie Halt in einer schwierigen Lebenssituation sucht, wäre es also nur allzu natürlich, die Tränen auch zu zeigen.
Warum wird Weinen als unangenehm oder sogar peinlich empfunden:
Dafür sind unsere Lernerfahrungen verantwortlich. Für Kinder ist es noch ganz natürlich zu weinen, wenn es weh tut. Egal ob bei körperlichem oder seelischem Schmerz.
Entscheidend ist dann wie die Bezugspersonen auf diese Tränen reagieren. Welche Sätze fallen immer wieder als Reaktion?
- Wird das Kind in seinem Schmerz ernst genommen und getröstet („Ach Mensch, das hat jetzt richtig weh getan. Ich verstehe, dass du weinst. Brauchst du eine Umarmung?“)?
- Oder hört es oft als gut gemeinten, aber schlecht gesagten Trost Sätze, die die Tränen und damit das Gefühl runterspielen („War doch nicht schlimm. Ist ja nichts passiert“, „Indianer kennt keinen Schmerz“, „Männer sind tapfer“ etc.)?
- Fallen Sätze, die die Tränen sogar abwerten („Du Heulsuse“, „Du Weichei“)?
- Manche Kinder werden aufgrund der vermeintlichen Kleinigkeit als Auslöser der Tränen sogar ausgelacht.
- Manchmal ist auch niemand da, der trösten würde.
- Wenn ein Kind spürt, dass die Eltern dauerhaft extrem gestresst sind und bei Tränen dann die Reaktion erfolgt: „Warum weinst du denn jetzt schon wieder? Das kann ich echt nicht gebrauchen“, wird das Kind abspeichern, dass seine Tränen eine Belastung sind.
Da Kinder ganz feine Antennen haben, ist auch manchmal bereits eine indirekte, sich wiederholende Reaktion (wie z.B. ein Stöhnen) ausreichend, um den Eindruck, eine Belastung zu sein, zu verstärken.
Die Folgen der Erfahrungen im Umgang mit unseren Tränen:
Ob jemand in der Beratung oder Therapie weint, hängt neben der Erfahrung auch stark mit dem Temperament und der Persönlichkeit zusammen. Die eigene gefühlsmäßige Reaktion auf Tränen vor jemand anderem sind jedoch wesentlich geprägt durch Regeln, Werte und Annahmen beeinflusst. Die entstehen durch die Reaktionen der Andere (s.o.).
Es kommt bei negativen Erfahrungen zu einem anderen Umgang mit und einer anderen Reaktion auf Tränen.
Es kann zu einer inneren Abwehr kommen. Wir ziehen uns zurück, reißen uns zusammen und beißen die Zähne aufeinander (manchmal im wahrsten Sinne des Wortes).
Wir versuchen uns so vor Abwertung zu schützen oder für das Gegenüber keine Belastung zu sein. Weinen kann als Zeichen von Schwäche abgespeichert werden.
Wir überstehen dann traurige Situationen auf eine andere Art und Weise und zwar, indem wir uns vermeintlich unempfindlicher machen.
Festgehaltene Tränen suchen sich dann häufig einen anderen Weg.
Der Körper reagiert mit Anspannung und Atembegrenzung, was wiederum zu Schmerzen führen kann.
Wenn es doch nicht mehr anders geht bzw. die Nerven so angespannt sind, dass alles Festhalten nicht mehr klappt und diese Menschen in der Beratung oder Therapie weinen, fühlt sich das sehr unangenehm an. Es entsteht unbewusst die Angst, auch für den Therapeuten oder die Therapeutin eine Belastung mit den Tränen zu sein (wie damals für die Eltern) und es folgt der Impuls, sich zu entschuldigen.
Was kannst du tun:
Zunächst trau dich, deine Gefühle direkt anzusprechen (so was wie: „Ich hasse es, wenn ich vor dir/Ihnen weinen muss“). Deine Gedanken und Gefühle, die entstehen, wenn du in der Beratung oder Therapie weinst, gibt eine wertvolle Information zu deinen unbewussten Einstellungen zu Gefühlen.
Ein großer erster Schritt ist getan, wenn man diese unbewussten Glaubenssätze sichtbar macht.
Das Zulassen der Tränen ermöglicht dir, eine neue, korrigierende Erfahrung mit deinem*r Therapeut*in oder Berater*in zu machen:
- dass deine Traurigkeit und deine Tränen okay sind.
- dass dein Gegenüber damit umgehen kann und du den Trost erhältst, den du in diesem Moment brauchst.
- dass du Hilfe bekommst, dich wieder zu beruhigen und das Gefühl nicht unkontrollierbar ist.
Dies kann dir dann auch in deinem „normalen Alltag“ helfen, dich zu öffnen und Bedürfnisse erfüllt zu bekommen, die du hast. Wenn in der Beratung oder Therapie „alle Dämme brechen“ kann dies eine lösende Wirkung haben.
Durch ein ungehemmtes Weinen und eine gute Reaktion darauf können Verletzungen durch Beschämung oder Vernachlässigung Schritt für Schritt überwunden werden.
Dafür braucht es Mut, Vertrauen und Zeit.
Mach dir keine Sorgen: wir Therapeut*innen und Berater*innen sind dafür ausgebildet und es ist unser Job.
Ich freue mich tatsächlich, wenn meine Klient*innen Tränen zeigen. Natürlich nicht, dass sie traurig sind, sondern weil ich dann weiß, dass ein wichtiger, schmerzlicher Punkt angesprochen wurde. An der Stelle ist die Veränderung möglich!
Deshalb: Mut zu Tränen! Mut zu Gefühlen!
Wenn du ein bisschen Unterstützung benötigst, deinen Tränen und Gefühlen mutig gegenüber zu treten, weil sie dir Angst machen, unangenehm sind oder oder, melde dich super gerne bei mir und wir machen das gemeinsam!