Du betrachtest gerade Innere Unruhe, Stress und starkes Gefühl? Bewährte und konkrete Strategien zum Runterkommen.

Innere Unruhe, Stress und starkes Gefühl? Bewährte und konkrete Strategien zum Runterkommen.

Ja, es ist wichtig, Gefühlen Raum zu geben. Nein, es heißt nicht, dass du nichts tun darfst, um dich aus einer hohen Anspannung rauszuholen. Häufig wird ja erst dann möglich, hinzuspüren, was eigentlich los ist und was du genau brauchst. Die ersten beiden Strategien sind gedacht für Situationen, in denen du „funktionieren“ musst und dich aus einem hohen Anspannungsbereich rausholen möchtest.

Hier ein paar Beispiele:

  • Eine Erinnerung und die Trauer überfallen dich und eigentlich musst und möchtest du dich gerade auf etwas anderes konzentrieren.
  • Das Verhalten deines Kindes macht dich sehr ärgerlich. Du willst dein Kind jedoch nicht anschreien, sondern Alternativen finden.
  • Du hast starke Angst oder bist aufgeregt in Bezug auf eine dir bevor stehende Situation (z.B. Vortrag).
  • Du merkst, dass deine Gedanken unaufhörlich um ein bestimmtes Thema kreisen und du deshalb innerlich unruhig bist.
  • Der Berg an Aufgaben stresst dich, du fühlst dich überfordert und weißt nicht, wo du anfangen sollst.

Die dritte Strategie schließt dann daran an, wenn du mehr Ruhe hast (sowohl innerlich, als auch äußerlich). Wenn du also wieder in der Lage bist, klarer zu denken, kannst du dann die dritte Strategie anwenden, um ins Handeln zu gehen.

But first things first…. Zum besseren Verständnis der Strategien ist ein „Grundwissen“ hilfreich:

Kurzer Ausflug in den biologischen Hintergrund

Wenn wir uns stark angespannt fühlen, sind wir im Hyperarousal (=Übererregung). Nicht mehr alle Hirnareale sind gleichmäßig aktiviert. Es feuert vor allem der „ältere“ Teil im Gehirn, der für den Kampf- oder Fluchtmodus zuständig ist. Wir sind sozusagen im Überlebensmodus und vieles läuft ganz automatisch ab. Unser Frontalhirn, das für die Impulssteuerung zuständig ist, ist etwas übertrieben gesagt, abgeschalten. Over and out!

Deshalb sagen oder tun wir auch immer wieder Dinge in diesem Zustand, die uns und/oder anderen langfristig nicht gut tun (z.B. jemanden anschreien). Wir sehen also im wahrsten Sinne des Wortes nichts anderes mehr als rot.

Wie leicht wir in den Bereich des Hyperarousal geraten, hängt davon ab wie hoch unsere Grundanspannung ist. Je höher die ist, umso näher liegt unsere Anspannung am Hyperarousal. Du kennst das bestimmt: manchmal kann man richtig viel Geduld mit jemanden (oder sich selbst) aufbringen. In einer anderen Situation ist man schon bei einem kleinen falschen Wort oder bei einem Teller, der runter fällt, direkt auf 180.

Hier ein paar Einflussfaktoren auf unsere Grundanspannung im jeweiligen Moment:

  • genug Zeit für Selbstfürsorge und Pausen
  • die Grundbedürfnisse sind gestillt (z.B. Hunger, Schlaf)
  • es gibt eine gewisse Grundzufriedenheit mit dem eigenen Leben
  • ein stabiler Selbstwert
  • es gibt aktuell positive Erlebnisse und/oder Erfolge

Wie schnell unsere Anspannung (unabhängig vom Ausgangsniveau) nach oben schießt, ist abhängig von unserem Temperament. Z.B. wird Cortisol (ein Stresshormon) bei tendenziell eher ängstlichen, schüchternen Menschen vermehrt ausgeschüttet. Es gibt auch noch eine Reihe anderer Faktoren, die hier (neuro)biologisch mit wirken.

Um es aber nicht komplizierter als nötig zu machen, vergleiche ich das gerne mit Autos (auch wenn ich die sonst nur nach Farben kategorisiere). Wenn die emotionale Ansprechbarkeit so eher Typ Ferrari ist, dann reicht schon ein leichtes Tippen auf das Gaspedal und es geht schnell dahin. Bei einem alten Opel muss man echt lange und intensiv aufs Gas drücken bevor was passiert und dann ist das Erlebnis möglicherweise auch nicht so intensiv. Will sagen: bei manchen geht das mit der sich aufschaukelnden Anspannung sekundenschnell, bei anderen muss richtig viel passieren und zusammen kommen bevor das Fass überläuft.

Eine wichtige Rolle in dem Geschehen spielt unser Nervensystem mit Sympathikus (Erregungsnerv) und Parasympathikus (Entspannungsnerv). Alles, was unseren Parasympathikus anregt und uns gleichzeitig nicht schadet (im Gegensatz z.B. zu Fingernägel kauen, Alkohol trinken o.ä.) ist also herzlich willkommen. Darum geht es in den jeweiligen Strategien.

Strategie 1: Bringe dich durch intensive Reize zurück ins Hier und Jetzt

Viele kennen es: es beruhigt uns etwas in der Hand zu halten und mit den Fingern daran zu spielen. Bei mir bricht klassischerweise immer mal wieder die Kullihalterung ab, weil ich die unbewusst „bearbeite“. Diese automatischen Strategien können wir ganz gezielt einsetzen. Meine Empfehlung bei hoher Anspannung (bei einer Skala von 0-100 wäre das etwa ab 70) ist es daher, zunächst intensive Reize auf verschiedenen Sinneskanälen anzuwenden. Diese Strategien (auch „skills“ genannt) stammen ursprünglich aus der Therapie mit Borderline Patient*innen, also Menschen mit u.a. hoher einschießender Anspannung. Sie sind aber meiner Erfahrung nach für die allermeisten Menschen in Anspannungssituationen hilfreich.

Hier einige Beispiele für skills:

  1. Schmecken
    • scharfe Bonbons lutschen
    • Brause oder saure Kaugummis (z.B. Center Shocks)
    • frischen Zitronensaft trinken
    • scharfe Mundspülung
    • in Ingwer beißen
  2. Sehen
    • alles um dich herum in einer bestimmten Farbe benennen und genau anschauen (z.B. alles was blau ist)
    • nach oben schauen und dann (relativ kurz) die Augen hin- und her bewegen
  3. Riechen
    • Duftöle, die du als beruhigend empfindest und mit Entspannung verbindest
    • an scharfem Tigerbalm riechen
    • Räucherstäbchen anmachen
    • Lieblingsparfüm auftragen
    • Aromasticks
    • japanisches Heilpflanzenöl (gibts in der Drogerie)
  4. Hören
    • Rythmische, deiner Stimmung entgegen gesetzte Musik möglichst laut hören (Playlist zusammenstellen)
    • die Augen schließen und benennen, was du alles hören kannst (lass dir hierfür Zeit)
  5. Hirn Flick Flacks
    • mental die Steckdosen zuhause zählen
    • von 1000 in 13er Schritten rückwärts rechnen
    • für jeden Anfangsbuchstaben im Alphabet einen Städtenamen, ein Tier, einen Vornamen o.ä. oder auch Stadt- Land Fluss mit der selbst spielen
  6. Spüren
    • coolpack auf Unterarm oder Nacken legen
    • Gesicht kalt abwaschen
    • ein eiskaltes Glas Wasser trinken (möglichst zügig)
    • Igelball intensiv über den Unterarm bzw. unter den Füßen rollen oder in der Hand drücken
    • Knete intensiv kneten (hier gibt es auch tolle Therapieknete in unterschiedlichen Stärken)
    • mit einem kleinen Kieselstein im Schuh spazieren gehen (hört sich fies an- ich weiß)
    • einen Handschmeichler nutzen
    • Fingerfidgets benutzen (wenn du keine kennst, einfach mal googlen)
    • Rücken gegen die Wand lehnen und Beine im 90 Grad Winkel. Position halten bis es wirklich nicht mehr geht.
    • du darfst kreativ werden- hier ein Bild von meinem Regulationsaffen, der immer an meinem Schreibtisch zum rumkneten bereit liegt:

Es gibt auch noch viele weitere Ideen, die zusammengefasst unter „Skilllisten“ im Internet zu finden sind. Denk daran: du kannst am allerbesten einschätzen, ob etwas für dich hilfreich sein könnte. Suche dir 3-4 dieser Strategien aus und lege sie dir, soweit möglich, zurecht.

Die skills sollten dann hintereinander (mehrmals, abwechselnd) verwendet werden. Je nach Autotyp (im Anschluss an den Vergleich weiter oben) geht es mehr oder weniger schnell bis du wieder unter die 70 kommst. Nicht selten braucht es aber Zeit. Versuche dich währenddessen ganz auf den skill und das Erleben dabei zu konzentrieren.

Strategie 2: Wende einfach umsetzbare Achtsamkeitstechniken an

Wenn du entweder merkst, dass deine Anspannung schon deutlich gesunken ist oder du auch eine innerliche Unruhe hast, die sich nicht nach 70 plus anfühlt, kannst du einfache Achtsamkeitstechniken anwenden, die dich beruhigen.

Der Klassiker ist die Hinwendung zur Atmung, weil du hier ganz gezielt Einfluss auf den Parasympathikus nehmen kannst. In meiner Biofeedback Ausbildung habe ich am eigenen Körper gespürt und über die visuelle Rückmeldung gesehen, dass wir über unsere Atmung Einfluss auf unseren Puls, Blutdruck, Hauttemperatur usw. nehmen können. Es hilft wirklich!

Atemübung 1: verlängere die Ausatmung.

Versuche zehn Atemzüge lang beim Einatmen bis 4 und beim Ausatmen bis 6 zu zählen. Das kannst du natürlich auch etwas abwandeln- wichtig ist, dass das Ausatmen länger ist. Stell dir dabei eine Welle von der Seite vor, die nach hinten abflacht.

Atemübung 2: 5-Finger-Atmen

Beginne am kleinen Finger und fahre diesen mit dem Zeigefinger der anderen Hand langsam bis zur Fingerspitze an der Außenseite hoch, atme dabei ein. Dann fahre den Finger an der Innenseite langsam wieder runter, dabei atme aus. Wiederhole diesen Ablauf für die restlichen Finger.

Atemübung 3: Box Atmung

Atme ein und zähle dabei innerlich von 1 bis 4, halte den Atem und zähle bis 4, atme aus und zähle bis 4, Atempause und zähle bis 4. Wiederhole das.

Eine andere Übung unabhängig vom Atmen ist die 5-4-3-2-1 Technik (Sehen – Hören – Spüren):

Sage dir laut oder in Gedanken, was du mit deinen Sinnen im Moment gerade wahrnimmst:

Als erstes konzentriere dich darauf, was du siehst. Es sollten fünf Dinge sein, die du mit ruhiger Stimme aufzählen kannst. Danach zähle fünf Dinge auf, die du hörst (hier gerne die Augen schließen). Als nächstes nenne fünf Dinge, die du spürst (an deinem Körper, z.B. der Hosenknopf, die Schuhe usw)- fühle richtig rein in die Empfindung. Lass dir Zeit.

Bist du damit durch, konzentriere dich wieder auf Dinge, die du siehst, diesmal müssen es nur vier sein. Keine Sorge, die Dinge dürfen sich wiederholen. Vier Dinge, die du hörst. Vier Dinge, die du spürst.

Dann geht es weiter mit drei Dingen, dann zwei Reize und zuletzt nur noch eine Sache. Es ist ziemlich sicher, dass du am Schluss der Übung einen Unterschied spüren wirst!

Weitere Dinge, die du achtsam tun könntest und die dich beruhigen:

  • Mandalas ausmalen
  • Origami falten
  • Malen nach zahlen oder Zahlen verbinden (ja, das gibt es auch für Erwachsene)
  • Puzzeln
  • Spazieren gehen (dabei deine Schritte mit dem Atmen verbinden, deine Schritte zählen oder die 5-4-3-2-1 Übung machen

Strategie 3: Benenne dein Gefühl und schau mal, ob du das Bedürfnis dahinter entdeckst

Anspannung reduzieren und damit Kontrolle gewinnen ist leider erstmal nur die halbe Miete. Wenn du mit all dem durch bist, schau mal, was von deinem Gefühl bleibt und versuche es zu benennen. Wende dich deinem Gefühl zu. Welche Gefühle sind da? Wo spürst du das Gefühl im Körper? Was ist gerade los bei dir?

Es ist beruhigend, wenn du deine Anspannung zuordnen kannst und einen Namen dafür findest. Schaue dann im nächsten Schritt, welches Bedürfnis hinter deinem Gefühl stehen könnte. Also z.B. bei Wut das Bedürfnis nach Kontrolle, Selbstbehauptung oder bei Trauer das Bedürfnis nach Trost. Nimm dafür auch konkrete Listen mit Gefühlen und Bedürfnissen zur Hand. Eine super Übersicht findest du z.B. hier.

Wenn ein Gefühl hoch kam, das von der Intensität her eher unangemessen für den Auslöser ist (eine eher banale Situation, lässt dich extrem wütend oder traurig werden), könnte das ein „altes Gefühl“ sein. Also ein Gefühl, das du von früher gut kennst und damals auch angemessen war. Oft fühlt man sich in diesem Gefühl eher jünger als man wirklich ist. Für einen solchen Falll kann dir vielleicht mein Artikel mit konkreten Schritten zur Selbstberuhigung bei „alten Gefühlen“ helfen.

Long story short

Probiere mal diese drei Schritte aus:

  • intensive Reize
  • Achtsamkeit
  • Hinwendung zum Gefühl

Bereite dich auf schwierige Situationen vor, indem du dir skills zusammenstellst, Achtsamkeitsmethoden ausprobierst und dich immer mal wieder nach dem Namen deines Gefühls fragst. Die Regulation von Gefühlen und der Umgang mit ihnen lassen sich trainieren wie einen Muskel.

Über diese 3 Strategien hinaus, gibt es noch so viel mehr, was dir helfen kann mit bestimmten Gefühlen klar zu kommen! Dazu hilft es, individuell auf dich zu schauen. Solltest du also nicht weiter kommen, musst du da nicht alleine durch. Gerne unterstütze ich dich dabei!

Solltest du insbesondere unter Grübeln vor dem Einschlafen leiden, habe ich hier auch noch ein paar Tipps zusammengestellt.

Was hilft dir im Umgang mit Gefühlen? Bist du eher Typ Ferrari oder alter Opel? Ich freue mich über deinen Kommentar oder ein Feedback!

Deine Sabine

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar